„Er muss da durch!“

„Er“ ist in diesem Fall ein Pferd (es könnte genauso gut eine „sie“ sein). Wie oft hört man diesen Satz im Umgang mit Pferden. Meistens wird dieser Satz dann geäußert, wenn ein Pferd in einer bestimmten Situation emotionale Schwierigkeiten hat. Zum Beispiel beim Integrieren in eine neue Herde. Oder wenn ein Fohlen abgesetzt wird. Oder wenn ein Pferd allein zurückbleiben muss, während seine Freunde ausreiten gehen. Oder (glücklicherweise passiert das aber nur noch selten) wenn ein Pferd zum ersten Mal einen Sattel trägt und in Panik versucht, ihn herunterzubuckeln.

 

Muss das Pferd da wirklich durch? Zugegeben, Eingewöhnen und Absetzen sind wirklich schwierige Lebensabschnitte für Pferde. Es sind aber oft Kleinigkeiten, die wir tun können, um ihnen diese Zeit ein bisschen zu erleichtern. Ein Pferd in eine bestehende Herde einzugewöhnen, ist eine Kunst und leider eine, über die sehr wenige Stallbesitzerinnen verfügen – oder sie sind einfach nicht bereit, die nötige Zeit und Arbeit zu investieren. (Manchmal kann man ihnen das auch gar nicht verübeln, denn es gibt eine nicht unbedeutende Anzahl von sogenannten „Stallnomaden“, die schon nach kurzer Zeit wieder wegziehen, ohne das Gespräch zu suchen.)

 

Auf jeden Fall gibt es aber immer einige Maßnahmen, die den Stress für ein Pferd vermindern können, zum Beispiel

 

- mehr Futterplätze anbieten,

- neue Pferde für einige Tage in einem Integrationsbereich unterbringen,

- ein zweites Pferd als Gesellschaft mitnehmen, wenn man eine neue Umgebung erkundet,

- oder den jungen Absetzer zusammen mit einem bereits bekannten Onkel oder einer Tante unterbringen

- und das Alleinsein Schritt für Schritt üben und sich bewusst machen, dass es für Pferde eine sehr unnatürliche Situation ist, mit der manche von ihnen nie gelassen umgehen können.

 

Eine vollständige Liste mit Tipps, wie man ein Pferd in schwierigen Situationen unterstützt, ist aber nicht der Sinn dieses Blogbeitrages. Ich möchte eigentlich die Frage stellen, ob wir uns überhaupt die Mühe machen sollten, herausfordernde Situationen für Pferde erträglicher zu machen, wenn nach ein paar Wochen eh alles wieder passt? Meine klare Antwort: Ja! 

 

Der Hauptgrund ist natürlich die Vermeidung von Verletzungen, sowohl beim Pferd als auch bei den Menschen, die mit dem gestressten Tier zu tun haben. Und dann gibt es auch die Gefahr von unsichtbaren Verletzungen. Vor einigen Wochen habe ich ein Webinar zum Thema „Aufbau und Ähnlichkeiten des menschlichen und des Pferdegehirns“ gesehen. Es hat mich schockiert zu lernen, dass emotionale Traumata die Gehirnstrukturen verändern. Pferde, die ein Trauma erleiden, haben im wahrsten Sinne des Wortes einen Hirnschaden. Dies kann sich auf die Art und Weise auswirken, wie sie Informationen verarbeiten, was wiederum Auswirkungen auf das weitere Training und den Umgang mit ihnen hat. Glücklicherweise ist das Gehirn im Laufe der Zeit recht anpassungsfähig, und obwohl die Forscher noch keinen Beweis dafür haben, glauben sie, dass das Gehirn schließlich alle Funktionen wiederherstellen kann. Ich persönlich würde diesen Schaden aber lieber von Anfang an vermeiden!

 

Ich glaube, dass Menschen, die „Er muss da durch!“ sagen, das oft nicht wirklich so meinen. Ich glaube, es ist häufig ein Ausdruck der Hilflosigkeit, weil sie nicht wissen, was sie tun können, um die Situation zu erleichtern. Oder weil es ihnen in Anwesenheit der neuen Stallkolleginnen etwas peinlich ist, dass ihr Pferd sich gerade so aufführt. Und manchmal sagen wir es, weil wir selbst nichts anderes vom Leben gewöhnt sind. Wie oft müssen wir irgendwo durch, vor allem im Berufsleben? Ist es nicht Zeit, dass wir uns darüber Gedanken machen?

 

Wie so oft sind es die Pferde, die uns zeigen, dass es höchste Zeit ist, dass wir einen anderen Umgang mit uns und unseren Mitmenschen pflegen sollten.