In diesem extremen Beispielbild von iStock sieht man ein Pferd, das hinter der Senkrechten geht, einen falschen Knick hat und dessen Ohrspeicheldrüse gequetscht wird. Sein Maul ist weit aufgerissen, der Ausdruck in seinen Augen deutet auf Stress oder Schmerz hin, und, und, und. (Erschreckenderweise hat iStock laut eigener Angabe noch 4000 weitere ähnliche Bilder im Angebot. Ich habe sie nicht alle angeschaut, um festzustellen, ob alle so furchtbar sind.) Übrigens lehnt sich der Reiter oder die Reiterin im Bild auch zu weit zurück. Ich glaube, der Großteil meiner Leser kann das alles wahrnehmen.
Macht bitte alle ein kleines Experiment für mich. Während der nächsten Tage oder Wochen, je nachdem wie viel ihr auf social media unterwegs seid, seht euch die Fotos oder Videos, die gepostet werden, genau an. In letzter Zeit werden mir ständig irgendwelche reels angezeigt, die eignen sich super für unser Experiment. Oder gebt #horsesofinstagram bei der Suchfunktion ein. Und schaut euch auch die Bilder eurer Facebook-Freunde genau an. Wie viele Pferde seht ihr, die ein bisschen hinter der Senkrechten laufen, und wie viele Reiter lehnen sich eigentlich zu weit nach hinten?
Ich fing an, über dieses Thema nachzudenken, als ich einmal wieder von einem fremden, großen Reitstall zurückkam. In einem kleinen, abgetrennten Teil der riesigen Halle fand unser Kurs statt. Da es regnete, benutzten auch andere Reiter die Halle. Obwohl ich ihre Pferde nur nebenbei beobachtete, konnte ich nicht übersehen, dass die meisten von ihnen einen gestressten Gesichtsausdruck hatten, hinter der Senkrechten gingen usw. Und diese Erfahrung mache ich immer wieder! Es stimmt natürlich: Wenn man am Pferd sitzt, ist es schwierig, den Gesichtsausdruck des Pferdes zu sehen und die Körperwahrnehmung täuscht oft. Aber es waren auch immer wieder Trainer dabei! Warum sahen sie es nicht? Es ging manchmal so weit, dass ich an meiner eigenen Wahrnehmung zweifelte. Da ich öfters als zweit-Trainerin fungiere, waren meine Schüler auch ab und zu verunsichert. Gott sei Dank habe ich tolle Kolleginnen und Ausbildner, die meine Ansichten teilen und mich beruhigten.
Ich interessiere mich nicht nur für das Gehirn des Pferdes, sondern auch für das des Menschen und wie es der Zufall so wollte, wurde ich auf ein Buch aufmerksam, das mir Hinweise lieferte, warum unsere Wahrnehmung so ist wie sie ist. Hier sind ein paar meiner Gedanken dazu.
Nehmen wir den Reitersitz als erstes Beispiel her. Ich zitiere das Reiterpass-Buch*: „Im Dressursitz befinden sich im Halten und in der Bewegung der Kopf des Reiters, seine Schultern, Ellbogen, Hüftknochen und Fersen auf einer Linie.“ Wenn der Oberkörper des Reiters um fünf Grad nach vorne kippt, ist er also rein mathematisch gesehen genauso weit weg von der idealen Position, wie wenn sich der Oberkörper um fünf Grad nach hinten lehnt. Aber ganz subjektiv betrachtet, beurteilt ihr die zwei Reiter gleich? Die Fotos auf social media lassen es fast so wirken, als wäre der nach hinten gekippte Dressurreiter die neue Norm. Das ist deshalb so problematisch, weil es in unserem Gehirn sogenannte Spiegelneuronen gibt. Diese Neuronen werden nicht nur aktiviert, wenn wir tatsächlich eine Tätigkeit ausüben, sondern auch, wenn wir jemandem dabei zuschauen. Vereinfacht gesagt: Menschen und Tiere lernen durch Imitation, auch auf einer unbewussten Ebene. Wenn man also ständig von Reitern umgeben ist, die sich zu weit nach hinten lehnen, ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass man unbewusst beginnt, sich selbst zu weit nach hinten zu lehnen. (Das ist auch ein Grund dafür, warum wir uns mit positiven Beispielen umgeben sollten und uns nicht auf das Negative fokussieren dürfen!)
Mein zweites Beispiel ist die Tatsache, dass viele Pferde etwas hinter der Senkrechten geritten werden. Ich weiß leider selbst, dass das ein Fehler ist, der allzu schnell passiert. Mich fasziniert (und erschreckt) jedoch die Menge von Profilbildern, die Reiter mit überzäumten Pferden zeigen. Bemerken die Betroffenen es nicht, weil es so häufig vorkommt? Ist es denn für sie normal? Oder liegt es an einem Mangel an Wissen? Oder ist es ihnen einfach egal, dass ihr Aushängeschild ein Foto ist, das ein Pferd in einer gesundheitskomprimierenden Haltung zeigt? Ich persönlich tendiere zur ersten Erklärung.
Inzwischen befürchte ich auch, dass es bedauerlicherweise wenig Reiter gibt, die regelmäßig glückliche Pferdgesichter, Pferde ohne Sorgenfalten, Pferde mit losgelassenen Gängen sehen. In manchen Reitställen gehen die positiven Beispiele neben den Massen von gestressten, schmerzgeplagten oder Shutdown-Pferden einfach unter. Was man nicht bewusst wahrnimmt und im eigenen Umfeld sieht, kann man nicht erkennen!
Was ist allerdings mit den Menschen, die es wirklich besser wissen sollten, zum Beispiel den Richtern? Oder gewissen Gurus, die dubiose Trainingsmethoden anbieten? Hier liefern ebenfalls Erkenntnisse aus der Neurowissenschaft einen Hinweis. Vorweg muss zwar gesagt werden, dass nicht alle Gehirne nach dem gleichen Schema funktionieren, bei der Mehrheit von uns Menschen ist es aber so, dass wir überwiegend die rechte Hemisphäre, also Gehirnhälfte, verwenden, wenn wir etwas Neues lernen. Je mehr Expertise wir in einem Bereich entwickeln, desto mehr übernimmt die linke Gehirnhälfte die Arbeit. Wieder sehr vereinfacht erklärt, betrachtet die rechte Gehirnhälfte die Welt etwas ganzheitlicher, während sich die linke Gehirnhälfte um die Details kümmert. Chantel Prat benutzt in ihrem Buch „The Neuroscience of You“** dafür eine Wald-/Bäume-Analogie, die ich wie folgt verstehe (und auch etwas weitergedacht habe): Der Anfänger oder Laie betrachtet ein neues Thema oder eine neue Fähigkeit so, als würde er außerhalb eines großen Waldes stehen. Er muss sich zuerst ein paar Orientierungspunkte merken. Erst wenn er sich besser auskennt, fängt er an, die Bäume individuell zu betrachten. Er spezialisiert sich dann z.B. auf die Insekten-Verteilung unter der Baumrinde oder misst den Wasserverbrauch. Bis er allerdings irgendwann buchstäblich den Wald vor lauter Bäumen nicht mehr sehen kann.
Kann es sein, dass wir manchmal so sehr auf‘s Detail achten, z.B. die Platzierung der Hufe bei einer bestimmten Aufgabe (= Baum), dass wir das Pferd als Ganzes (= Wald) dabei nicht mehr wahrnehmen?
Diese Erklärung für das Problem so vieler Reiter wäre mir recht, denn ich kann und möchte nicht glauben, dass so viele Reiter, Trainer und Richter Geld und Erfolg über das Wohl des Pferdes stellen. Laut eigener Aussagen lieben sie Pferde ja! Es muss deshalb eine andere Erklärung (Erklärung, wohlgemerkt, nicht Entschuldigung!) geben, als dass ihnen die Tiere egal sind.
Wir müssen alles Mögliche versuchen, um Pferden Leid zu ersparen. Warum funktioniert aber ein direkter Angriff auf diese Fraktion von Richtern, Reitern usw. nicht? Egal ob als Facebook-Kommentar oder persönlich? Weil sich Gehirne, die ähnlich wahrnehmen, oft ihresgleichen suchen. Das ergibt eine unbewusste Aufteilung in „die“ und „wir“ und Konflikte sind vorprogrammiert. (Wir nehmen eine Situation natürlich „richtig“ wahr und die anderen spinnen.) Deswegen braucht die Reiterwelt auch Meinungen von außen. Fragt einmal einen nicht-Reiter, ob ein Pferd glücklich ausschaut. Die Antworten sind spannend. Spannend war auch der Sturm der Entrüstung innerhalb der Sportreiterwelt, als beim olympischen Modernen Fünfkampf Saint Boy verprügelt wurde. Ein extremes Beispiel? Seid mal ehrlich, jeder, der zumindest auf Lizenzniveau gesprungen ist, hat schon einmal gehört, er solle dem Pferd bei einer Verweigerung einen ordentlichen Klaps geben. Ist das nicht das Gleiche?
Die Lösung? Ich schwenke jetzt von der Neurowissenschaft ab und verweise auf Äsops Fabel von der Sonne und dem Wind. Als der grausame, kalte Wind versuchte, den Mantel eines Wanderers wegzublasen, hielt der Wanderer ihn nur noch fester um seinen Körper. Aber als die Sonne ihn wärmte, entschied der Wanderer sich selbst dazu, den Mantel auszuziehen. So, liebe Leserinnen, wie können wir als die Sonne agieren, um zumindest einen Teil der Pferdewelt zu Veränderungen zu ermutigen? Reicht Aufklärung aus? Was sagt ihr dazu?
*FENA Lehrbuch zu den Lizenzprüfungen und Sonderprüfungen
** Chantel Prat – The Neuroscience of You